Präparierkurs Medizin aus Sicht eines Mediziners im klinischen Semester
Im zweiten Semester meines Medizinstudiums habe ich den Präparierkurs für Mediziner absolviert. Darüber haben ich hier schon berichtet. Damals war es eine riesengroße Erfahrung, an den Körpern von Spendern die Anatomie des Menschen kennenzulernen. Unsere Dozentin, Professorin der Anatomie, begrüßte uns mit den Worten, dass das der wichtigste Kurs der Vorklinik sein würde. Entgegen allen anderen Dozenten, die ihrer Ansicht nach dasselbe über ihre Fächer sagen würden, würde sie Recht behalten. Nun sind einige Jahre vergangen und ich befinde mich am Ende der klinischen Semester. Hatte sie Recht?
Der Präparierkurs in der Vorklinik
Was passiert eigentlich noch mal im Präparierkurs?
Man lernt an leblosen Körpern die gesamte Anatomie des Menschen kennen. In Kleingruppen versammelt man sich über einen Zeitraum von zwei Semestern 2-mal innerhalb einer Woche im Saal der Anatomie. Vor uns liegen die Körper von Menschen, die sich noch zu Lebzeiten dazu entschlossen haben, nach ihrem Tod als Lehrobjekt für uns zur Verfügung zu stehen. Die Körperspender liegen in den ersten Tagen noch geschlossen vor uns auf silbernen Edelstahltischen. Am Ende des Kurses sind die Körper kaum noch wiederzuerkennen. Es klingt makaber: Köpfe fehlen, Bauchräume sind geöffnet. Der Darm ist in seiner ganzen Länge sichtbar, es fehlen Rippen, das Herz ist entnommen.
Welchen Mehrwert hat dies für angehende Mediziner?
Jeder Medizinstudierende hat zu dem Zeitpunkt die menschlichen Organe gesehen und gefühlt. Langsam macht sich ein Verständnis für den Körper breit. Wie Herz und Gefäße zusammenspielen, wird uns immer bewusster. Aber erst das tiefergehende Wissen aus den klinischen Semestern komplettiert unser Verständnis vom komplexen Wesen des Menschen. Wir lernen in der Orthopädie die Pathologien des Bewegungsapparates kennen. Es wäre schon sehr schwer zu begreifen, welche Auswirkungen eine Sehnenruptur der Handmuskeln hat, wenn man zuvor nie eine offene Hand gesehen hätte mit all ihren komplexen Strukturen. Oder in der Radiologie würde eine Röntgenaufnahme des Thoraxes, ohne jemals einen Blick in das Innere des Brustkorbs geworfen zu haben, sehr unübersichtlich wirken. Das anatomische Wissen ist eine Grundvoraussetzung für das Verständnis des Menschen und damit für das Bestehen der Fächer der klinischen Semester.
Über den Schwierigkeitsgrad des Anatomiekurses
Der Kurs ist zweifelsfrei eine der größten Herausforderungen des Studiums. Das liegt daran, dass man in kurzer Zeit sehr viel auswendig lernen muss. Hunderte von Muskeln, Nerven und Knochen sollte man kennen oder zumindest zuordnen können. Darüber hinaus sollte man die Systematik verstehen. Der Körper funktioniert nach einer gewissen Logik. Zum Beispiel sind verschiedene Nervensysteme miteinander verbunden. Wie kommuniziert das Gehirn mit dem Arm? Warum können wir einige Bewegungen steuern und andere, wie das Pumpen des Herzens oder unsere Reflexe laufen automatisch ab? Zusätzlich herrscht ein großer Druck von anderen Seiten. Man möchte das Fach beherrschen aus Respekt zu den Toten. Die Prüfungen werden mündlich abgelegt, die Prüfer:innen sind häufig Professor:innen der Anatomie. Das steigert die Erwartungen, die man an sich selbst hat. Außerdem hat man in der Vorklinik noch oft das Gefühl, Ungelerntes nicht mehr aufholen zu können – ein Irrglaube, der sich erst in der Klinik legt.
Diese Schwierigkeiten zu meistern, hat mich anfangs sehr gefordert. Ich kann mich noch gut an Situationen erinnern, in denen ich ernsthaft angefangen habe, an mir und meinen Fähigkeiten zu zweifeln. Auch wenn es schon vor der Anatomie andere Fächer gab, die mich an meine Grenzen gebracht haben, hat der Präpkurs dies noch einmal in einer Intensität getan, die ich so noch nicht kannte. Ich habe mich oft gefragt, ob und wie ich das Wissen in einer relativ kurzen Zeit in meinen Kopf bekommen soll. Und ich habe große Angst davor gehabt, mich in den Prüfungen vor meinem Professor:innen und den Kommiliton:innen zu blamieren. Dass diese Gefühle aus einer falschen Denkweise entstammen, habe ich später gelernt. Die Angst vor dem Versagen war aber immer präsent und obwohl sie auch ein gewisser Antrieb war, bin ich trotzdem froh, diese Ängste abgelegt zu haben.
Was hat mir am besten gefallen?
Der Kurs hat viele sehr schöne Eindrücke hinterlassen, wenn ich mich aber festlegen müsste, würde ich sagen, dass das Beste an dem Kurs die Erfahrung war, den Menschen von innen zu sehen. Dadurch, dass die Körper mit Formalin behandelt worden sind, wurden sie konserviert. Durch diesen Prozess denaturieren die menschlichen Proteine und jegliche Stoffwechselvorgänge kommen zum Erliegen. Ohne die Konservierung käme es zur Fäulnis. Das erlaubt es, über viele Wochen die Körper zu studieren.
Eine Sache, die ich aber erst rückblickend richtig wertschätze, ist, dass man diesen Kurs und all seine Höhen und Tiefen mit einem Großteil der Kommilitonen:innen bestreitet. Das bietet im späteren Verlauf kein anderer Kurs. Ich vermisse es sehr, nach Anatomie mit meinen Freunden zusammen in die Stadt zu gehen, um mich beim Lieblingsasiaten zu stärken. Diese Gelegenheiten ergeben sich einfach nicht mehr sehr häufig, da die Kurse in viel kleineren Gruppen absolviert werden. Außerdem bilden sich am Präp-Tisch auch viele Freundschaften und angeblich auch zahlreiche Partnerschaften. Es ist toll, gemeinsam zu wachsen und auch zu leiden. Ich habe viele Freunde gefunden und unvergessliche Momente mit meinen Kommilitonen:innen teilen dürfen.
Die Bindung zu den Dozenten ist in diesem Kurs leider nicht sehr ausgeprägt. Man bekommt seine Dozenten kaum zu Gesicht. Umso wichtiger ist es, Kommilitonen zu finden, die einem mit Rat und Tat zur Seite stehen.
Ist auch handwerkliches Geschick gefragt?
Der Mensch besteht zu einem Großteil aus schützendem und verbindendem Gewebe. Viele Strukturen können erst richtig untersucht werden, nachdem sie davon freigelegt wurden. Das ist eine der Hauptaufgaben des Kurses. Man verbringt die meiste Zeit damit, Knochen, Muskeln, Organe und Gefäße sowie Nerven von Fettgewebe zu befreien. Mit einem Skalpell und einer Pinzette versucht man sich in filigraner Arbeit, um bloß keine wichtigen Strukturen, die spätestens in der Prüfung wichtig werden könnten, zu zerstören. Das gelingt nicht immer.
Mir ist es einmal passiert, dass ich einen Teil der Rektusscheide abgeschnitten habe. Sie besteht aus Muskelfortsätzen (Aponeurosen) und umhüllt den Musculus rectus abdominis, dem Muskel, der für das Sixpack verantwortlich ist. Mein Prüfer hat das nicht gerne gesehen, zumal der Muskel auch prüfungsrelevant war. Bei anderen Strukturen habe ich mehr Geschick bewiesen. So habe ich mit einem kleinen Hämmerchen und einem Meißel die Mittelohrknochen und auch den Spinalkanal in den Wirbelkörpern freilegen können.
Macht mich der Kurs zu einem besseren Arzt?
Ich denke schon, dass der Anatomiekurs Wissen vermittelt hat, welches mir sehr helfen wird, die medizinischen Zusammenhänge in meinem späteren Berufsleben besser begreifen zu können. Ob das den Unterschied für meine späteren Patienten:innen machen wird, kann ich nicht voraussagen. Aber es wird mir sicherlich helfen, die richtigen Schlüsse zu ziehen. Dadurch, dass ich nun weiß, wie der Mensch von innen aussieht, bin ich besser vorbereitet, den Patienten:innen und seine:ihre Krankheit zu begreifen. Für chirurgische Tätigkeiten ist der Kurs und die Erkenntnis vermutlich von noch größerer Bedeutung, da man schon vor dem ersten Schnitt eine Vorstellung von dem hat, was einen erwarten wird. Auch beim Lernen von neuem Wissen hilft es enorm, ein Bild des Körpers zu haben, da es das Erlernen von Fakten um ein Vielfaches vereinfacht, sobald man diese Verknüpfungen aufbauen kann.
Wie habe ich für den Präpkurs gelernt?
Typischerweise kauft man sich zum Lernen für den Präpkurs einen Anatomie-Atlas. Der beliebteste Atlas unter den Studierenden bildet das komplette anatomische Wissen in 3 Bänden ab. Aufgeteilt in Knochen und Muskeln, innerer Organe und dem Nervensystem bekommt man sehr detaillierte Zeichnungen des Menschen mit sehr guten Texten, welche sich super zum Lernen eignen. In diesen Atlanten findet man alles, was die Prüfer:innen von einem wissen wollen und noch viel mehr, sodass sie ein ständiger Begleiter im Studium bleiben. Ein weiteres Medium, dessen Investition sich lohnt, ist die bekannte Online Wissensdatenbank Amboss. Die Uni Würzburg und viele andere Unis stellen ihren Studierenden kostenfreie Lizenzen zur Verfügung. Das lohnt sich sehr, da hier brandaktuelles medizinisches Wissen allzeit griffbereit ist. Geschrieben von Fachärzten und ständig von jenen aktualisiert. Die Kombination aus Anatomie-Atlas und Amboss hat mir besonders gut gefallen und ist für den Erfolg völlig ausreichend.
Gelernt habe ich regelmäßig. Das würde ich auch allen empfehlen, die den Kurs noch vor sich haben oder bereits mittendrin sind. Zwischen manchen Prüfungen liegen nur drei Wochen und die Zeit vergeht wie im Flug. Diese nicht zu nutzen, resultiert schnell in einer riesigen Belastung kurz vor den Prüfungen. Es lohnt sich also, regelmäßig die wichtigsten Strukturen zu wiederholen. Besonders eignet es sich, mit dem Atlas den Anatomiesaal außerhalb der Unterrichtszeiten aufzusuchen und in Ruhe noch mal die Strukturen durchzugehen. Besonders aufpassen sollte man dabei, dass man sich nicht in kleinen Details verrennt. Das passiert schnell. Ist aber eine sehr gute Übung für den weiteren Verlauf des Studiums, da es immer wieder von enormer Bedeutung ist, den Fokus richtig zu setzen.
Kritik am Kurs
Der Kurs ist sehr teuer und man kann durchaus darüber streiten, wie groß der Nutzen letztendlich für den Einzelnen ist. Es gibt bereits Unis, die den Kurs nicht mehr für ihre Studierenden anbieten. Als Alternative werden dann Nachbildungen von Organen angeboten, häufig aus Kunststoff mit hoher Detailtreue. Auch ist es möglich, virtuelle Modelle zu erforschen, die den Menschen und seine Organe sehr realistisch abbilden.
Ich denke, dass es durchaus auch mit alternativen Lernmaterialien möglich ist, ein fundiertes Wissen über den Körper zu erlangen. Allerdings werden diese vermutlich niemals das gleiche Gefühl hinterlassen, wie das Forschen an einem echten Menschen.
Ob das erlangte Wissen gleichwertig oder vielleicht sogar überlegen ist, kann ich nicht beurteilen. Ich kann aber durchaus verstehen, dass es Überlegungen gibt, die Körperspender gegen Äquivalenten auszutauschen. Die Organisation eines Präparierkurses erfordert viel Arbeit. Es müssen Körperspender:innen gefunden werden, diese müssen aufwendig konserviert und „gelagert“ werden. Es benötigt große Räumlichkeiten und viel Energie zur Kühlung der Körper. Außerdem bedarf es der Arbeit von sehr vielen Menschen. Nicht vergessen darf man dabei, dass die Körper auch nach dem Kurs bestattet werden müssen. Das übernimmt in Würzburg die Uni. So kommt es, dass der Kurs pro Studierender 20.000 Euro kostet. Kosten, die der Studierende nicht selbst tragen muss.
Was würde ich anders machen, wenn ich noch einmal teilnehmen müsste bzw. dürfte?
Würde ich den Kurs wiederholen, würde ich mir noch mehr Zeit für das Studieren der Körper nehmen. Diese Chance ist einmalig und das war mir damals nicht so ganz bewusst. Viel Zeit habe ich damals aufgewendet, um Gefäße freizulegen und hab mich dabei häufig ertappt, gedankenverloren meiner Arbeit nachzugehen, ohne wirklich bewusst über die Struktur und seine Funktion nachzudenken. Heute würde ich außerdem mehr Zeit für das große Ganze aufwenden und mir weniger Zeit für die kleinsten Verästelungen nehmen. Außerdem würde ich mich mehr mit dem Menschen auseinandersetzen. Was hat ihn dazu getrieben, sich der Wissenschaft zur Verfügung zu stellen? Man würde darauf keine speziellen Antworten bekommen, aber ganzaAllgemein ein Gefühl dafür entwickeln, warum sich ein Mensch zu Lebzeiten für diesen Weg entscheidet. Außerdem würde ich mich gedanklich noch intensiver mit dem Tod auseinandersetzen und den Austausch mit meinen Dozenten suchen.
Fazit über den Präparierkurs der Vorklinik
Der Kurs kann schon sehr stressig sein. Das enormen Detailwissens, welches von einem in den vielen mündlichen Prüfungen abverlangt wird, ist eine der größten Herausforderungen des noch frischen Medizinstudierenden. Und auch in der Retrospektive gab es kaum ein anderes Fach, welches so fordernd war. Und nun zeigt sich, dass sich der Aufwand mehr als gelohnt hat. Nur sehr wenige Fächer kommen damit aus, kein anatomisches Wissen vorauszusetzen. Um aber den Menschen und sein Leiden zu verstehen, braucht es den Präparierkurs. Auch das persönliche Wachstum ist immens. Der Kurs veränderte meine Sichtweise auf den Menschen. Stets unter Druck zu sein und sich mit einem immensen Wissensberg auseinanderzusetzen zu müssen, während man mit existenziellen Fragestellungen über Leben und Tod konfrontiert wird ist, glaube ich eine ständige Begleitung im Alltag eines Arztes. Diese zu meistern lehrt der Präparierkurs schon im Kleinen und man lernt, diese großen Herausforderungen zusammen mit seinen Kollegen zu bewältigen.
Euer Marvin,
Medizinstudent an der Universität Würzburg und jungmediziner.de Campus Captain