Medizinstudent in China - Wenn die Welt pausiert

Medizinstudent in China – Wenn die Welt pausiert…

… Gedanken und Ausblick über einige Perspektiven der Covid-19-Pandemie.
Ein Erfahrungsbericht von einem Medizinstudent über Eindrücke und Erlebnisse in China während Corona.
Der 25.03.2020, ist Tag 62 seit der Abriegelung der Stadt Wuhan.
Seit dem 23.01.2020 bildete sich bei mir allmählich eine neue Gewohnheit: Jeden Morgen das Handy zu checken, um sich über die Zahl der Infizierten zu informieren auf „丁香园“ (dxy), Chinas beliebtestem Portal für Ärzte. Eine verlässlichere Quelle innerhalb der Great Firewall ist kaum zu finden. In dem Newsticker war in den ersten Tagen, als der exponentielle Aufstrich gerade erst begann, wenig Trost zu finden. Die Zeilen enthielten jedoch auch wenige Momente des Lichtblicks und diese hatten eines gemeinsam: Solidarität.

Der neue Alltag

Täglich war die Rede von Ärzte- und Pflegeteams aus der gesamten Nation, die sich zusammenrauften und sich nach Wuhan begaben. Von Einsätzen des Militärs im Sinne der Katastrophenhilfe wurde ständig berichtet. Social-Media-Kanäle wie WeChat beteiligten sich, indem sie, da wo möglich, Schandtaten aufdeckte und verbreitete. Dies war u.a. das Abfangen von Atemschutzmasken durch das Rote Kreuz Hubei, um diese an private Krankenhäuser zu verteilen. Die Überwachung des Internets fungierte in diesem Moment dabei als Anreiz an der Grenze des vermutlich Erlaubten zu schwimmen. Big Brother bleibt nämlich unerbittlich: Ein VPN-Dienst nach dem anderen fiel aus. Namen von kontroversen Schlüsselpersonen wie Ärzte und Ziviljournalisten, ihre Lautschriften und deren Initialen wurden als Suchstichwörter zensiert. Artikel wurden entfernt.

Das Individuum und die Maschinerie

Wenn ich zugeben muss, mindestens eines gelernt zu haben, dann ist das Folgendes: Ich habe das Bestreben und die Handlungsbereitschaft der chinesischen Bevölkerung im Sinne der Transparenz und Informationseffizienz unterschätzt. Leider können sich die wenigsten dabei vorstellen, wie weit dies in einem liberalen Internet gehen könnte.

Auch muss ich eingestehen: Nach 14 Jahren praktisch lückenlosem Aufenthalt in Deutschland weiß ich gar nicht mehr, wie ich China charakterisieren würde. Der dortigen Zensur und Propaganda bin ich mindestens genauso kritisch wie meine Mitmenschen, die außerhalb Chinas leben. Ein Schauer läuft mir den Nacken hinunter, wenn auf dem Display der U-Bahn ein Zeichentrickfilm läuft, wo der Erzähler friedfertig und überzeugt „Mein Leben bedeutet nichts im Angesicht meines Landes“ von sich gibt.

Aber nachdem ich einige Wochen in einem Krankenhaus in Suzhou, meiner ehemaligen Heimatstadt, mitarbeiten durfte, bekam ich einen frischen Wind zu spüren: eine gute Mischung aus Eigenständigkeit und Solidarität. Dabei eingeschlossen die Bereitschaft, seine Handlung und die Grenzen seiner Taten zu Gunsten des Sinnvollen vorausschauend anzupassen. Man hört weitaus weniger Beschwerden über ungerechte Arbeitszeiten, zu niedrige Löhne (sogar seitens der Krankenschwestern) und unzuverlässige Kollegen. Wenn man aufgrund einer starken steuernden Hand nicht gewohnt ist, seine Situation grundlegend verändern zu können, fällt einem dies seltener ein. Und da, wo Menschen enger nebeneinander leben und sich in demselben Boot befinden, fühlt man sich womöglich weniger allein gestellt.

Maßnahmen

Die Provinz Jiangsu, in der auch Suzhou liegt, berichtet bei 640 kumulierten bestätigten Fällen bis heute die offizielle Todeszahl 0. Vor dem Anstieg der Importfälle seit Anfang März waren alle gemeldeten Patienten geheilt. Um das zu erreichen, wurden auch einige Lungentransplantationen durchgeführt.

In besonderen Situationen wie dieser handelt man für sich und seine Nächsten. Die Dimension, in der sich das eigene Verhalten auswirken kann, wird vermutlich gering bleiben. Nicht jeder hat die Ehre, zu einem Superspreader zu werden – dazu wird eine viel zu hohe Quote an asymptomatisch Infizierten angenommen. Dadurch fühlt sich der Effekt seiner eigenen Handlung unvermeidlich weniger weltbewegend an. Aber was ist außergewöhnlich? Tausendmal was Gewöhnliches. In dem Moment, wo sogar jeder deiner Nachbarn mitmacht, muss man nicht mühevoll nach Motivation suchen.

Kurz nach Abriegelung Hubeis standen die Vor-Ort-Maßnahmen im ganzen Land, einschließlich Checkpoints mit Fieberkontrollen, Gesundheit-Apps, Mahlzeitbringer-Roboter und verschiedene Dokumentationsstandards. Eine generelle Ausgangssperre per Gesetz wurde nie verhängt. Parallel bei der spürbaren Energie durch geradezu erstickende Staatsgewalt bildete sich vielerorts eine starke Motivation, die Lage schnell und positiv zu beeinflussen. 

Die chinesische Regierung behandelt die Pandemie als eine politische Aufgabe. Berechtigte Menschenrechtsdiskussionen entflammen. Es wird nun, in der abklingenden Phase, von Erkrankten berichtet, die sich eher überwacht als behandelt fühlen. Auf der anderen Seite: Ist es im Zweifelsfall so wichtig, was das Individuum zu seiner konstruktiven Handlung bewegt?

Das Dilemma des minimalen Risikos

Die Unsicherheit, die alle erwischt hat in den ersten Wochen ist auch für mich ein großes Thema geworden. Ich hatte schlaflose Nächte. Ständig ist mir geraten worden, den nächsten Flieger nach Deutschland zu nehmen. Wenn in einer Region, wie die, in der ich lebte, wenige betroffen sind, stellt sich eine besondere Situation ein, wenn doch eine oder zwei Fälle bekannt werden. Die gesamte Stadt wird „geweckt“.

Vollständige Namenslisten der Reisenden in den letzten Tagen werden von den Eisenbahnbehörden unzensiert veröffentlicht und verteilt. Es werden Logbücher über alle Bewegungen dieser Personen veröffentlicht und Modelle erstellt über bestes und schlimmstes Szenario der Ausbreitung. Das Stillsitzen wird auf einmal für alle unmöglich. Die Sorge gerät außer Verhältnis zu Menge an tatsächlicher Handlung, die notwendig sein dürfte, um die Lage tatsächlich positiv zu verändern. Zeitweise hatte ich, um das Gefühl der Beteiligung zu spüren, tatsächlich die Live-Übertragung des Baus der zwei Krankenhäuser Huoshenshan und Leishenshan eingeschaltet. Diese schauten sich zeitweise über 500 Mio. Zuschauer an.

Durch diese Erfahrungen kann ich nachvollziehen, wie sich die Mehrheit der Einwohner Deutschlands und der Welt in den vergangenen Wochen gefühlt hat. Und wie sie sich vermutlich noch fühlen wird im Laufe der nächsten Wochen.

Heute und morgen

Es sind Zeiten des Bedauerns, und unvermeidlich treten Gefühlslagen auf, die einem zuvor vielleicht noch nie begegnet sind. Gefühle sind energiegeladen, negative Gefühle vor allem. Dabei kann man diese Energie verwandeln: um sich selbst zu verbessern, um das Leben zu organisieren, um zu entschleunigen, um Menschen zu würdigen, an die man sonst nicht denken würde. Menschen wie Kassierer, Postboten, Müllabfuhr, Internetanbieter, Radiosender, nicht zuletzt Krankenschwestern, Ärzte und Künstler. All diese Menschen bieten mit ihrer im Vergleich zu sonst teils gesteigerten Aktivität Trost in einer Zeit, wo sonst viel nervenraubende Passivität gefordert wird.

Bis heute sind in China über 30 medizinische Angestellte an einer Covid-Infektion verstorben. Augenärzte, HNO-Ärzte und Neurochirurgen blieben nicht verschont. Der jüngste von ihnen war ein 21jähriger Radiologe aus Fujian. Dabei steigt in Europa die Zahl der infizierten Krankenhausmitarbeiter, in Spanien wird davon ausgegangen, dass diese 14 % der Gesamtziffer ausmachen.

In der besonderen Situation kann man wagen, einen Schritt zurückzugehen und zu fragen: Besteht die größte Chance, eine Veränderung herbeizuführen, nicht darin, dass viele Mensch ein gleiches Ziel verfolgen und das aus eigener Motivation heraus, ohne nötigen Einsatz von Mahnungen und Verordnungen? Sind das differenzierte Denken und Kommunikation über nationale Grenzen hinweg nicht eine Möglichkeit und Notwendigkeit jedes Einzelnen, der zumindest an ein freies Internet angebunden ist?

Möglichkeiten

Wenn alle in einer Krise an einem Strang ziehen, könnte das eine neue Ära der internationalen Zusammenarbeit einläuten. Die zentralen Organe von zahlreichen Staaten, die Volksrepublik eingeschlossen, halten Präventivschläge und Protektionismus leider für notwendig. In erster Linie: Der Ursprung des Ausbruchs wird auf andere geschoben, der Fortschritt der Impfstoffentwicklung dem eigenen Land zugeschrieben und aus Höhe der Katastrophenhilfe wird ein Wettbewerb gemacht. China hat jedoch gezeigt, dass eine Identifikation mit dem Staatssystem nicht notwendig ist, damit Individuen und dezentrale Institutionen die Gemeinschaft und nicht zuletzt sich selbst von ihren Handlungen profitieren lassen. Auch wenn man sich natürlich von den Zwängen des Staatsorgans nie gänzlich befreien kann.

In der Diversität der Maßnahmen liegt der Schlüssel, wenn es um Bewältigung einer Krise geht. Südkorea lässt massenweise Asymptomatische testen. Japan verhängt kaum Mobilitätseinschränkungen. Deutschland misst, soweit es geht, kein Fieber. Kein Land kann alles von einem anderen übernehmen, aber man kann mindestens auf diesem Weg was über das andere Land lernen, Fragen stellen, ins Gespräch kommen. Es handelt sich bei der aktuellen Lage zweifelsohne um eine globale Krise. Man kann es sich nicht leisten, mühsam errungene Systeme internationaler Zusammenarbeit und Solidarität auszuhöhlen und die Fehler anderer zu wiederholen.

Bill Gates spricht von „Get ahead of it”. Damit ist die Investition in Forschung gemeint, um bereit zu sein bei dem nächsten Ausbruch. Bei allen Mitteln und Kenntnissen wird jedoch kein zentrales Organ stark genug sein, um das gesamte Volk mitzuziehen. Schon gar nicht in einem demokratischen Land voller unterschiedlich denkender Köpfe. Das eigenständige Informieren und Motivieren der Bürger werden unersetzlich sein, wenn es um Herausforderungen in einer solchen Dimension geht.

Am 25.03.2020, beginnt die Provinz Hubei, ihre Reiseverbote wieder aufzuheben. 

Mehr Erfahrungsbericht zu studieren oder Famulaturen im Ausland findet ihr hier!

Euer Jiechu
Medizinstudent an der Universität Würzburg (11. Semester, Humanmedizin) und jungmediziner.de Gastautor